Das Gleichnis vom Sauerteig kommt dem Domdekan Raimund in den Sinn, während er Jehudith, die Frau seines jüdischen Freundes Chaim, beim Brotbacken beobachtet. Wir befinden uns im Jahre 1096 im Anbau der Mainzer Synagoge. Chaim ist einer der Rabbis von Mainz, er möchte zusammen mit Raimund einen Psalm übersetzen:

Das Himmelreich ist gleich einem Sauerteig, den ein Weib nahm und unter drei Scheffel Mehl vermengte, bis es ganz durchsäuert ward.          (Matthäus 13, 32)

„Gerade gestern habe ich in den Berichten eurer Evangelisten gelesen“, sagt Chaim zu Raimund. „Ich mag es sehr, wie euer Herr seine kleinen Geschichten erzählt wie die vom Sauerteig. Ganz schlicht und doch verwirrend schön. Dann denke ich, da spricht ein Jude zu mir, rätselhaft und geheimnisvoll.“
Später fügt Chaim noch hinzu: „Wahrlich, dieses schöne Gleichnis hätte einen Platz auch in unserem Talmud verdient.“

Aber ist dies überhaupt realistisch? Ein Rabbi aus dem 11. Jahrhundert soll Gefallen an einem Gleichnis Jesu finden? Hat der Autor seinen Protagonisten da nicht allzu moderne Gedanken über religiöse Toleranz übergestülpt. War das nicht dunkles Mittelalter?

Radierung-Jan-Luykens-1712

Radierung-Jan-Luykens-1712 (i)

Nicht unbedingt. Alexander Altmann (1906-1987), ein jüdischer Philosoph und Literaturwissenschaftler, spricht von einer Aufklärung des Mittelalters (ii), ohne die es die neuzeitliche Aufklärung in ihrer Form vielleicht gar nicht gegeben hätte.
Einer der Vertreter dieser mittelalterlichen Aufklärung war Ibn Kammûna (1215 – 1285), ein jüdischer Philosoph und Arzt. In seinem Werk „Untersuchung über die drei Religionen“ führt er einen sehr wohlwollenden Vergleich von Judentum, Islam und Christentum durch. Auch der muslimische Universalgelehrte al-Biruni (973-1048) beschäftigte sich mit den Ähnlichkeiten und Unterschieden der Religionen, in denen er ein gemeinsames Element erkannte. Er betrachtete die verschiedenen Religionen als Verwandte. Damit nimmt al-Biruni einen Gedanken vorweg, den Lessing in der berühmten Ringparabel seines Dramas Nathan der Weise so eindrücklich formuliert hat.
Solche toleranten und interessierten Auffassungen waren im Mittelalter sicherlich nicht „Mainstream“, aber es gab sie eben doch: Menschen, die offen und interessiert aneinander waren, auch wenn sie einer anderen Religion angehörten. Und überhaupt: Warum sollte ein Jude, sei es heute oder im Mittelalter, nicht Gefallen finden an den vielen Gleichnissen, die der Jude Jesus der Welt geschenkt hat.

Im Folgenden die Szene aus dem Roman Tod oder Taufe – Die Kreuzfahrer am Rhein von Jakob Matthiessen.

Mainz ─ im Anbau der Synagoge

Beim Eintritt in den Anbau der Synagoge schlug Raimund der Duft von frisch gebackenem Brot entgegen. Jehudith, die Frau des Rabbis, winkte ihm mit einer mehligen Hand zu. Auch ihre Schürze und Arme waren ganz bestäubt von dem hellen Puder. „Mein Mann erwartet dich bereits. Er brütet in der Synagoge über dem Text, den ihr heute übersetzen wollt.“

Roggensauerteig-im-Glas

Roggensauerteig im Glas (iii)

Raimund zog sich die Gugel von seinem Kopf und verbeugte sich vor der Frau seines Freundes. Auf einem Tisch neben dem Ofen lag ein großer heller Teigklumpen, in den sie mit der Faust ihrer rechten Hand ein Loch drückte. Aus einem Tonschälchen goss sie eine gräuliche Masse in das Loch hinein und schlug den Teig darüber zusammen. Flink kneteten Jehudiths Hände die zähe Masse, mit kräftigen Bewegungen walkten ihre Handballen wieder und wieder in den Teig hinein. Dann streute sie Mehl auf den Tisch und drückte den Klumpen flach, um den Fladen nochmals zusammenzuschlagen und in rhythmischen Bewegungen weiter durchzukneten.
Fasziniert beobachtete Raimund das geschickte Spiel von Jehudiths Händen. Nach einer Weile der Stille blickte sie ihn fragend an. „Warum schaust du so interessiert, wenn ein Weib seine Arbeit verrichtet?“
„Entschuldige bitte, Jehudith“, erwiderte Raimund. „Aber kennst du das Gleichnis vom Sauerteig? Daran musste ich denken.“
„Nein, das kenne ich nicht.“
Da ertönte eine warme Stimme aus der Tür, die zur Synagoge führte. „Das Himmelreich ist gleich einem Sauerteig, den ein Weib nahm und unter drei Scheffel Mehl vermengte, bis es ganz durchsäuert ward.
Chaim kam mit ausgebreiteten Armen auf Raimund zu. Seine großen wachen Augen über dem buschigen Bart schauten ihn freundlich an. „Raimund. Wie schön, dich zu sehen.“
„Dein Wissen über unseren Herrn beeindruckt mich immer wieder.“ Raimund streckte seine Hand aus, die Chaim, das Angebot der Umarmung dezent zurückstellend, herzlich ergriff.
„Danke. Gerade gestern habe ich in den Berichten eurer Evangelisten gelesen. Ich mag es sehr, wie euer Herr seine kleinen Geschichten erzählt wie die vom Sauerteig. Ganz schlicht und doch verwirrend schön. Dann denke ich, da spricht ein Jude zu mir, rätselhaft und geheimnisvoll“, schwärmte Chaim und fügte dann ernst hinzu: „Aber du weißt, ich kann nicht glauben, dass Jesus Gott ist. Gott will nicht, dass man ihn teilt.“
Auch wenn Raimund das sehr wohl wusste, versetzte es ihm doch einen kleinen Stich ins Herz. Er hatte seinem Freund eine Funktion als Berater der Kurie zu Fragen des Alten Testaments vermittelt. Dies war sowohl für ihn selbst als auch für Chaim von Vorteil, konnten sie doch so ihre religiösen Gespräche unter einem Mantel der Legalität verbergen. Und natürlich hatte er gehofft, seinem Freund ein wenig Verständnis für die Göttlichkeit Jesu abzugewinnen, die seit dem Konzil von Nicäa vor mehr als siebenhundert Jahren ein kirchliches Dogma war. Aber in diesem Punkt gab Chaim keine Haaresbreite nach. So schaute Raimund nun ein wenig enttäuscht auf Jehudiths Hände, die in emsiger Beharrlichkeit den Teig weiterbearbeitete.
„Mein Freund, da ist ganz viel Gutes in dem, den ihr euren Heiland nennt“, fügte Chaim in versöhnlichem Ton hinzu. Er schloss die Augen und sprach langsam, als wolle er sich jedes Wort auf der Zunge zergehen lassen: „Das Himmelreich ist gleich einem Sauerteig, den ein Weib nahm und unter drei Scheffel Mehl vermengte, bis es ganz durchsäuert ward. Wahrlich, dieses schöne Gleichnis hätte einen Platz auch in unserem Talmud verdient.“

Aus: Jakob Matthiessen. Tod oder Taufe – Die Kreuzfahrer am Rhein. Gmeiner-Verlag. Meßkirch, 2021 (zweite Auflage 2023). S. 31-33.

(i) https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.en

(ii) Alexander Altmann. Von der mittelalterlichen zur modernen Aufklärung: Studien zur jüdischen Geistesgeschichte: Studien Zur Jüdischen

Geistesgeschichte (Texts and Studies in Medieval and Early Modern Judaism, Band 2). Mohr Siebeck, 1987.

(iii) https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sourdough.jpg /

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