Gerschom ben Jehuda (um 960 – 1040) war ein jüdischer Talmudgelehrter, der in der SchUM-Stadt Mainz lebte. Sein Beiname »Leuchte des Exils« drückt die Wertschätzung aus, die dieser Gelehrte in der jüdischen Welt genoss. Bekannt waren insbesondere die von ihm verfassten Rechtsordnungen (Takkanoth), diese waren für die meisten Juden in Europa rechtsbindend.

Grabsteine auf dem Judensand [1]
Im Roman Tod oder Taufe – Die Kreuzfahrer am Rhein von Jakob Matthiessen spielt Gerschoms Takkanah über die Zwangstaufen eine wichtige Rolle. Sie lautet in der Übersetzung von Rainer Josef Barzen [2]:
Eine Rechtssatzung unter Androhung des schweren Banns. Man darf reuige Sünder vor Ihrem Angesicht wegen ihrer früheren Missetaten nicht beschämen.
Die folgende Szene stammt aus Jakob Matthiessens Roman:
Die Ausgangssituation: Die fanatischen Kreuzfahrer sind in die Stadt Mainz eingedrungen. Tod oder Taufe ist ihr Schlachtruf: Jeder Jude, der sich nicht taufen lassen will, soll getötet werden. Rabbi Mosche ruft die Mainzer Juden zur Selbsttötung auf, um so einer Taufe zu entgehen. Mosches Kollege, Rabbi Chaim und dessen Freund, der Domdekan Raimund, befürchten ein Blutbad, dass sie unbedingt verhindern möchten. Insbesondere möchten Sie verhindern, dass Eltern ihre Kinder töten, um sie vor der Taufe zu bewahren.
Rabbi Chaim erinnert sich an einen Kommentar des verstorbenen Rabbis Gerschom ben Juhudas zu einer Takkanah über Zwangsgetaufte. Zusammen mit Raimund befindet er sich in einem Zimmer mit jüdischen Schriften und sucht nach der Takkanah und dem zugehörigen Kommentar.
Am Ende sollte Chaim recht behalten: Bereits ein Jahr nach den Verfolgungen im Jahre 1096 kehrte Kaiser Heinrich IV. aus Italien zurück und erlaubte es den zwangsgetauften Juden, zu ihrem Glauben zurückzukehren.
Mainz, in der Bischofsresidenz
„Was sollen uns jetzt Gerschoms alte Schriften helfen?“, fragte Raimund.
„Er war die Autorität unter den jüdischen Gelehrten“, antwortete Chaim. „Seine Weisungen haben immer noch Gültigkeit für alle Juden im Land Aschkenas. Ich nehme an, er hat das, was ich suche, auf lose Blätter geschrieben.“
„Was hat er auf lose Blätter geschrieben?“
Flink nahm Chaim ein Blatt nach dem anderen von dem ersten Stapel, warf einen kurzen Blick darauf und legte es dann auf einen neuen, langsam wachsenden Stapel daneben ab. Ein leises Seufzen entfuhr ihm. „Wir müssen uns wohl jedes Schriftstück einzeln anschauen.“
„Darf ich dich freundlich daran erinnern, dass da draußen gerade Krieg ist?“
Chaim reagierte nicht auf den Einwand seines Freundes und ging weiter Blatt für Blatt den Stapel durch. Er überflog kurz den Text und legte ein Schriftstück nach dem anderen ab. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. „Wir haben Glück! Hier haben wir eine der Schriften Gerschoms. Es ist eines seiner Gedichte, das Zechor Berit Avraham, was so viel bedeutet wie ›Gedenke des Bundes mit Abraham‹. In ihm betrauern wir zu Yom Kippur die Zerstörung Jerusalems. Aber es drückt auch unsere Freude darüber aus, dass dem Volk Israel die Torah erhalten geblieben ist.
„Sehr gut, dann kannst du ja den bewaffneten Irren da draußen hebräische Gedichte vorlesen, wenn sie das Tor gestürmt haben. Das wird sie sicherlich erbauen, bevor sie euch abschlachten.“
„Wir sind nun einmal ein poetisches Volk“, antwortete Chaim ungerührt. „Aber das ist nicht, wonach ich suche.“
Chaim hatte inzwischen fast die Hälfte des ersten Stapels mit Schriftstücken abgearbeitet, da sagte er: „Hier ist eine seiner exegetischen Schriften. Sie behandelt das vierte Gebot, die Heiligung des Sabbats.“
„Bei uns ist das Sabbatgebot das dritte Gebot.“
„Nun ja, ihr Christen zählt eben falsch.“
„Wieso zählen wir falsch? Ihr könntet es doch auch einmal sein, die einen Fehler machen, du alter Besserwi…“ Mitten im Satz stockte Raimund und schlug mit der Faust auf das Pult, sodass zwei der Blätter auf den Boden fielen. „Was diskutieren wir hier eigentlich? Bibelexegese können wir machen, wenn der Wahnsinn hier vorbei ist. Falls wir dann noch leben.“
Chaim bückte sich, nahm die Blätter vorsichtig auf und pustete den Staub weg, der sich vom Boden auf das Blatt gelegt hatte. „Du hast recht. Ich suche nach einer Takkanah oder besser, nach deren Auslegung.“
„Eine Takkanah, was ist das?“
„Eine Verordnung über eine religiöse oder moralische Frage. Auch bezüglich sozialer Fragen wie Steuern und Erziehung gibt es Takkanoth.“
„Willst du Emichos Soldaten etwa eine jüdische Verordnung vorlesen: Liebe Ritter des Kreuzes, unser Rabbi Gerschom hat es euch verboten, uns irgendetwas Böses anzutun. Daher seid nun bitte so nett und reitet weiter nach Jerusalem?“
Chaim, der inzwischen angefangen hatte, den zweiten Stapel durchzugehen, antwortete: „Ich glaube nicht, dass wir damit das Heer der Unbeschnittenen beeindrucken könnten. Aber wir kommen der Sache näher. Hier ist Gerschoms Takkanah über das Verbot der Vielehe.“
„Ich glaube, deine Juden haben gerade andere Sorgen.“
„Hm, hier die Takkanah über die Scheidung. Einige unserer Männer hatten einen Abschnitt im Devarim missverstanden. Sie meinten, dass sie ihre Ehefrau ohne jegliche Begründung wegschicken dürften, wenn sie ihrer überdrüssig geworden waren. Es reiche schon aus, etwas Hässliches an ihr zu finden, um sich scheiden zu lassen. Gerschom hat jedoch darauf bestanden, dass die Frau der Scheidung zustimmen muss. Damit stärkte er die Stellung unserer Töchter und schützte sie damit sowohl vor Armut als auch dem Leben als Ausgestoßene.“
Plötzlich platzte ein Novize in den Raum hinein und rief: „Ich soll Euch ausrichten, dass ein neuer Angriff bevorsteht. Kundschafter haben erfahren, dass die Pilger den Widder auf den Flachsmarkt geschoben haben und ihn dort wieder instand setzen.“
„Zum Teufel noch mal, draußen wird bald eine Katastrophe geschehen!“, fuhr Raimund seinen Freund an.
Chaim blickte auf, wandte sich dann aber wieder dem Stapel mit den Pergamenten zu, den er nun deutlich schneller durcharbeitete.
Raimund trat zur Tür. „Chaim, ich muss zurück zu Hadewin. Ich muss sehen, was an dem Tor geschieht. Komm zu mir, wenn …“
„Hier ist sie endlich!“, unterbrach ihn Chaim. Stolz hielt er ein Pergament in die Höhe. „Gerschoms Takkanah über die Zwangstaufe.“
Raimund blieb an der Tür stehen, drehte sich um und fragte: „Was sagt diese?“
Konzentriert schaute Chaim auf das Dokument. „Sie ist natürlich in Hebräisch verfasst. Ich übersetze es dir.“
Zögernd kehrte Raimund zurück in das Zimmer und sah Chaim gespannt an. „Mach aber schnell.“
„Die Takkanah ist bekannt“, sagte Chaim. „Eine Rechtssatzung unter Androhung des schweren Banns. Man darf reuige Sünder vor Ihrem Angesicht wegen ihrer früheren Missetaten nicht beschämen.“
„Nun, das ist sehr allgemein gehalten. Wie soll uns das um Gottes willen weiterhelfen?“, fragte Raimund.
„Es ist sehr spezifisch gemeint.“
„Woher weißt du das?“
„Hier ist es, wonach ich eigentlich gesucht habe.“ Triumphierend hielt Chaim ein Pergament in die Höhe. „Der Brief Gerschoms im Zusammenhang mit den Zwangstaufen vor knapp neunzig Jahren. Das ist seine Schrift. Es besteht gar kein Zweifel.“
Chaim hielt das Pergament ans Licht. „Ich bin vor einigen Monaten auf den Brief gestoßen, habe ihn aber damals nur überflogen. Gerschom legt darin die Takkanah für die Gemeinden im Rheinland aus.“
„Was schreibt er?“
Wort für Wort übersetzte Chaim den hebräischen Text. „Wer unter Drohung des Todes der Taufe widersteht … ist ein leuchtendes Beispiel für die Gemeinde.“ Chaims Stirnfalten kräuselten sich, systematisch tastete er mit den Zähnen seine Lippen ab. „Jedoch darf die Heiligung Seines Namens Erwachsener nur … freiwillig erbracht werden.“
„Das Schlachten der Kinder ist verboten, ausgenommen … dass ihnen Schändung oder Sklaverei droht.“ Chaim nickte zufrieden, er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Oder wenn die Möglichkeit der Umkehr zum Bekenntnis an den Einen zu einem späteren Zeitpunkt völlig ausgeschlossen erscheint.“
„Ich befürchte, ich verstehe nicht ganz, wie wir das jetzt brauchen können.“
„Diese Takkanah und die zugehörige Auslegung hat rechtsbindenden Charakter, wie alle Takkanoth Gerschoms. Das Schlachten der Kinder hält Gerschom nur dann für zulässig, ich zitiere, wenn ihnen Schändung oder Sklaverei droht oder wenn die Möglichkeit der Umkehr zum Bekenntnis des Einen nach der Taufe zu einem späteren Zeitpunkt völlig ausgeschlossen erscheint.“
„Was bedeutet dies?“
„Die Verblendeten handeln außerhalb der kaiserlichen und kirchlichen Rechtsprechung. Keiner weiß, wie mit uns Juden verfahren wird, wenn sie endlich weitergezogen sind. Jedoch erscheint weder Sklaverei noch Schändung unserer Kinder wahrscheinlich. Sie werden schlimmstenfalls getauft und ins Kloster gebracht. Sie dürfen also nach den Anweisungen Gerschoms nicht getötet werden!“
[1] Bild von Ralf.Mauer – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16806327
[2] Rainer Josef Barzen (2019), »Taqqanot Qehillot Šum. Die Rechtssatzungen der jüdischen Gemeinden Mainz, Worms und Speyer im hohen und späten Mittelalter. Monumenta Germaniae Historica – Hebräische Texte aus dem mittelalterlichen Deutschland, Band 2«. Wiesbaden. Harrassowitz, S. 604
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